Warum Thomas Heaton eine falsche Vorstellung von Streetfotografie hat

 

Thomas Heaton ist einer der bekanntesten Landschaftsfotografen unserer modernen Generation und hat nahezu eine Millionen Follower auf seinen kombinierten Social Media Kanälen.

Dann hat er ein Video mit dem Titel “Why Do I Dislike Street Photography So Much?” auf seinem Youtube Kanal veröffentlicht. Neugierig habe ich mir dieses dann auch angeschaut. Am Ende bin ich aber zu dem Schluss gekommen: Thomas Heaton hat eine ziemlich verzogene und falsche Vorstellung von Streetfotografie.

 

Die Grundthese von Thomas Heaton

Thomas Heaton spricht in seinem Video über einen anderen Streetfotografen, der ohne Probleme aus nächster Nähe Menschen in einem Cafe fotografiert und richtige Close-Ups macht.

Für ihn fühlt sich diese Art der Streetfotografie an wie eine Mutprobe. Kaum richtet er die Kamera auf jemanden, geht bei ihm innerlich der Alarm los. „Was denken die jetzt?“, „Bin ich gerade total unhöflich?“, „Ist das nicht voll übergriffig?“ – solche Gedanken schießen ihm durch den Kopf. Und das lähmt. Die Kamera wird schwer wie Blei, der Auslöser bleibt still, und was am Ende auf dem Film landet, ist meist: nichts.

Dabei sagt er selbst, dass wahrscheinlich niemand überhaupt Notiz von ihm nimmt. Menschen sind mit sich selbst beschäftigt. Trotzdem ist da dieses unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden, als würde er eine Grenze überschreiten, nur weil er ein Foto machen will. Und genau hier liegt das Problem.

Denn er geht davon aus, dass diese Art der Streetfotografie das einzige ist, dass ihm zur Verfügung steht. Und das ist sogar einigermaßen naheliegend.

Denn die Art Streetfotograf, die fremden Menschen ihre Kamera direkt unter die Nase hält, bekommt auch in der Öffentlichkeit die meiste Aufmerksamkeit. Schlichtweg weil dieser Stil das größte Aufsehen erzeugt und wir uns schnell so fühlen, als ob hier Grenzen überschritten werden. Der ganze Vorgang fühlt sich unangenehm an. Und das gebe ich auch gerne selbst als Streetfotograf zu.

 

Die falsche Schlussfolgerung

Die falsche Schlussfolgerung ist nun aber, dass diese Art von “Konfrontations-Fotograf” die Definition von Streetfotografie ist.

Am besten so nah ran, dass du das Parfüm der Person riechen kannst. Wenn sich dabei nicht alle Beteiligten unwohl fühlen, dann ist es keine echte Streetfotografie – so ungefähr stellt er sich das vor.

Aber genau hier liegt das Problem. Er glaubt, dass diese direkte, fast schon konfrontative Art die Definition von Streetfotografie ist. Als gäbe es da eine feste Regel: „Nur wer fremden Leuten die Kamera vors Gesicht hält, macht es richtig.“ Und das ist schlicht falsch.

Klar, es gibt diese Art. Fotografen wie Bruce Gilden sind bekannt dafür. Blitz an, ran an die Leute, und abdrücken. Das ist laut, das ist intensiv – und das funktioniert auch für manche. Aber das ist eben nur ein kleiner Teil des großen Ganzen.

Streetfotografie ist viel mehr. Du kannst auch auf der Straße fotografieren, ohne jemandem zu nahe zu kommen. Ohne peinliche Begegnungen. Ohne überhaupt ein Gesicht zu zeigen. Vielleicht siehst du nur einen Schatten, einen interessanten Moment, eine Geste, ein Detail. Das reicht schon, wenn es eine Geschichte erzählt. Und genau darum geht es: Geschichten im Alltag zu finden. Nicht darum, fremde Menschen zu überrumpeln.

Heaton übersieht diese Vielfalt komplett. Und das führt ihn zu einer falschen Vorstellung: Er denkt, wenn er sich mit der konfrontativen Art unwohl fühlt, dann ist Streetfotografie halt nichts für ihn. Dabei liegt der Fehler nicht im Genre – sondern in seiner Annahme, wie es zu funktionieren hat.

Du musst niemanden überfallen, um gute Streetfotos zu machen. Du brauchst nur offene Augen, Geduld – und vielleicht ein bisschen Humor. Der Rest ergibt sich von selbst.

 

Wie traut man sich am besten an Streetfotografie heran?

Du musst nicht mitten auf der Straße stehen und wildfremden Leuten deine Kamera ins Gesicht halten, um mit Streetfotografie anzufangen.

Ganz im Gegenteil: Wenn du auf den Social-Media-Hype reinfällst und denkst, Streetfotografie bedeutet immer Nahaufnahme, direkte Konfrontation und am besten noch eine hitzige Diskussion mit dem Motiv – dann hast du einfach ein falsches Bild. Das ist genau der Punkt, bei dem auch Thomas Heaton nicht ganz richtig liegt.

Wenn du dich langsam rantasten willst, dann ist Distanz dein bester Freund. Nimm ein Teleobjektiv, sagen wir mal 85mm, und bleib erstmal auf Abstand. So hast du genug Raum zwischen dir und den Leuten und fühlst dich nicht direkt wie ein Eindringling auf fremdem Terrain.

Du kannst interessante Szenen fotografieren, ohne jemandem auf die Pelle zu rücken – und das fühlt sich deutlich entspannter an. Für dich und für die Menschen auf deinem Foto.

Ein Trick, der für mich super funktioniert: Fotografier Silhouetten, Rückansichten oder abstraktere Szenen. So kann man niemanden richtig erkennen. Das macht die Bilder nicht nur spannender, sondern spart dir auch Diskussionen über Datenschutz und Persönlichkeitsrechte.

Und das Beste daran? Du wirst fast nie angesprochen. In sieben Jahren ist das vielleicht zweimal passiert. Also echt kein Drama.

Wichtig ist nur: Mach Fotos, die du interessant findest. Wenn dich jemand fragt, kannst du erklären, warum du genau diesen Moment festgehalten hast. Die Leute stempeln dich dann vielleicht als ein bisschen seltsam ab – aber meistens mit einem Lächeln. Und das ist doch tausendmal besser, als sich gar nicht erst zu trauen.

Streetfotografie wirkt viel einschüchternder, als sie eigentlich ist. Der Grund liegt vor allem darin, wie das Genre von außen präsentiert wird.

Auf YouTube, TikTok oder Instagram sieht man vor allem diese eine Sorte Fotograf: jemand, der mit Kamera und Blitz bewaffnet durch die Straßen läuft, Leuten direkt ins Gesicht fotografiert und das Ganze auch noch mit einer fetten Portion Selbstbewusstsein verkauft.

Das wirkt laut, mutig, fast schon aggressiv – und genau diese Art von Streetfotografie bekommt die meiste Aufmerksamkeit, weil sie die Meinungen so sehr spaltet.

Klar, sowas bleibt hängen. Daher ist diese Art von Streetfotografie auch das, was die meisten Leute als erstes über dieses Genre sehen. Daher ist es auch verständlich, wenn man sagt: „Okay, wenn das Streetfotografie ist, dann ist das nichts für mich.“

Dadurch haben viele Menschen aber eben auch ein völlig falsches Bild im Kopf. Du glaubst, du brauchst Eier aus Stahl, musst ständig mit fremden Leuten diskutieren und am besten ein rechtliches Backup in der Tasche haben. Kein Wunder, dass viele gar nicht erst anfangen.

Aber das ist nur ein kleiner Ausschnitt. Streetfotografie ist in vielen Bereichen viel breiter, viel ruhiger, viel entspannter, viel respektvoller – und vor allem: viel zugänglicher.

Es geht nicht darum, andere zu überfallen. Es geht in erster Linie darum, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Kleine Geschichten zu sehen. Stimmungen einzufangen. Und das kannst du auch mit Abstand, mit Respekt, mit Stil.

Wenn du dir selbst erlaubst, das Genre nicht so eng zu sehen, wird plötzlich alles viel einfacher. Du brauchst kein virales YouTube-Video, kein Blitzlichtgewitter und keine lauten Ansagen. Du brauchst nur Neugier, Geduld und die Bereitschaft, auf deine eigene Weise loszulegen. Der Einstieg ist einfacher, als es im ersten Moment aussieht – wenn du dich nicht von der lautesten Version abschrecken lässt.

Hier nehme ich dich mit auf einen meiner Streetfotografie Walks:

 

 
Timo Nausch