Wie funktioniert Storytelling in Streetfotografie?
Ich und andere Streetfotografen sprechen gerne darüber, wie wichtig es ist eine Geschichte mit seinen Fotos zu erzählen.
Selten gehen wir aber darauf ein, wie genau dman das macht. Also, wie genau funktioniert Storytelling in der Streetfotografie eigentlich?
Der Betrachter entscheidet über die Geschichte
Eric Kim, https://erickimphotography.com
Nehmen wir zum Beispiel dieses Foto von einem Mann, der am Wasser liegt. Du weißt nichts über ihn. Aber dein Kopf beginnt sofort zu arbeiten.
Ist er ein Schiffbrüchiger, der gerade erst an Land gespült wurde? Oder hat er einfach nur die beste Mittagspause seines Lebens? Vielleicht – und dieser Gedanke ist etwas düster – ist er gar nicht mehr am Leben.
Genau hier passiert Storytelling in der Streetfotografie. Du lässt Raum. Du erzählst nicht alles. Du erklärst nicht, wer die Person ist, was vorher passiert ist oder was gleich passieren wird. Stattdessen lässt du den Betrachter die Lücken füllen.
Das funktioniert, weil Menschen Geschichten lieben. Unser Gehirn sucht automatisch nach Zusammenhängen, auch wenn es keine gibt. Wenn ein Foto zu eindeutig ist, verliert es schnell seinen Zauber. Aber wenn es offen bleibt, wenn es Fragen stellt statt Antworten zu geben, dann bleibt es länger spannend.
Stell dir vor, Leonardo da Vinci hätte unter die Mona Lisa geschrieben: „Sie lächelt, weil sie einen geheimen Liebesbrief erhalten hat”. Zack – alle Fantasie dahin. Das Gleiche gilt für Fotos. Wenn du erklärst, was passiert, nimmst du den Leuten den Spaß, selbst etwas zu erfinden.
Auch ein simpler Bildtitel hilft. Schreib nicht „Müder Fischer nach 14 Stunden Arbeit am Hafen“. Schreib lieber: „Marseille, 2013“. Plötzlich kann der Betrachter alles Mögliche in das Bild hineinlesen.
Vielleicht denkt er an Urlaub, vielleicht an Einsamkeit, vielleicht an ein ganz eigenes Erlebnis.
Die Fantasie des Betrachters anregen
Manchmal ist das, was wir nicht sehen, spannender als das, was wir sehen. Der Streetfotograf Alan Schaller hat es einmal so gesagt: „Wenn man in einer Aufnahme ein paar Details weglässt, regt das die Fantasie stärker an.“
Es gibt dafür einen Begriff: Curiosity Gap. Das bedeutet, dass in einer Geschichte eine Lücke entsteht, die unser Gehirn unbedingt schließen will.
Stell dir vor, in einem Film zielt jemand mit einer Waffe, und genau im Moment des Schusses wird das Bild schwarz. Sofort fragt man sich: „Was ist passiert?“ Man will weiterschauen, weiterspinnen, die eigene Version der Geschichte erfinden.
In Fotos funktioniert das genauso. Du kannst zum Beispiel die Augen einer Person nicht zeigen. Oder gleich den ganzen Kopf außerhalb des Bildes lassen.
Sofort will der Betrachter wissen: „Wie sieht diese Person aus? Welche Mimik hat sie?“ Das Bild wird geheimnisvoller – und damit spannender.
Es funktioniert auch, wenn du andeutest, dass etwas passiert, aber nicht zeigst, was. Stell dir ein Foto vor, auf dem jemand in ein Schaufenster starrt. Wir sehen nicht, was er sieht.
Sofort fragt man sich: „Was ist da drin?“ Menschen sind von Natur aus neugierig – vielleicht sogar ein bisschen zu sehr.
Manchmal reicht schon eine kleine Unstimmigkeit, um Geschichten auszulösen. Eine ausgelassene Freundesgruppe neben einem “Ruhezonen” Schild. Sofort kommen Fragen: „Ignoriert nur diese Gruppe das Schild? Gab es einen Grund für dieses Verhalten? Fühlen sich andere Menschen gestört?”
Das Schöne an diesen offenen Momenten ist, dass es keine falschen Antworten gibt. Jeder Betrachter bringt seine eigene Fantasie, seine eigenen Erfahrungen mit.
Und genau darin liegt die Magie: Dein Foto ist nicht nur deine Geschichte. Es wird zu vielen Geschichten – eine für jeden, der hinschaut.
Das führt allerdings auch dazu, dass deine Fotos nicht immer dieselbe Anerkennung bekommen, die du dir erhoffst. Dazu habe ich bereits ein gesondertes Video erstellt:
Ungewöhnliche Situationen oder Perspektivenspiel
Manchmal reicht ein kleines Stück „Seltsamkeit“, um ein Foto unvergesslich zu machen.
Das kann bereits ein kleines Detail sein, das erst beim zweiten hinsehen auffällt. Aber genau dieser Moment bringt den Betrachter dazu, stehen zu bleiben und zu denken: „Was zur Hölle passiert hier gerade?“
In der Streetfotografie ist das Gold wert. Denn das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass jemand dein Foto nur flüchtig anschaut und gleich weiterscrollt.
Aber wenn etwas im Bild nicht ganz stimmt, wenn es ein bisschen schräg oder rätselhaft ist, dann bleibt der Blick hängen. Und genau dann beginnt das Kopfkino.
Das kann ein Auto sein, das mitten auf dem Gehweg steht, als hätte es dort geparkt, weil es keinen Bock mehr auf die Straße hatte. Oder ein Mann im Anzug, der barfuß über einen Zebrastreifen läuft, als wäre das völlig normal. Solche Szenen haben etwas von Schlagzeilen in einer Boulevardzeitung – man muss einfach wissen, was dahinter steckt.
Ich persönlich liebe auch fast schon Abstrakte Reflexionen. Fotos, bei denen sich drinnen und draußen vermischen und man beim ersten hinschauen nicht genau versteht, was hier eigentlich vor sich geht.
Auch Kontraste zwischen Vorder- und Hintergrund funktionieren gut. Stell dir vor, ein Straßenmusiker spielt Geige vor einer riesigen Werbetafel, auf der ein Astronaut durchs All schwebt. Zwei Welten (historische Klassik & futuristische Moderne), die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, begegnen sich im selben Bild.
Das Schöne daran: Du musst nicht erklären, was los ist. Der Betrachter wird es selbst herausfinden wollen – oder sich etwas ausdenken, das vielleicht völlig anders ist als deine eigene Beobachtung.
Und genau da entsteht Storytelling: nicht durch Antworten, sondern durch Fragen, die das Foto im Kopf des Betrachters auslöst.
Charaktere finden
Manchmal läuft man durch die Stadt und sieht jemanden, der einfach nicht ins Grau des Alltags passt.
Vielleicht trägt er einen knallroten Anzug mit goldenen Schuhen. Oder sie hat ein Gesicht, das Geschichten zu kennen scheint, die sie niemals erzählen wird.
Solche Menschen sind wie Magnete für die Kamera. Sie ziehen Blicke an – und mit ihnen auch Gedanken, Fragen, Fantasien.
In der Streetfotografie kann man natürlich auch nur das Gewöhnliche festzuhalten. Wir Menschen sind aber von Natur aus neugierig auf das Ungewöhnliche. Normales übersieht man, Besonderes bleibt hängen.
Genau deswegen lohnt es sich, Ausschau nach Charakteren zu halten, die eine eigene Welt mit sich herumtragen.
Bruce Gilden
Bruce Gilden ist dafür ein Meister. Egal, was man von seiner Arbeitsweise hält – er hat ein unfehlbares Gespür für Gesichter und Gestalten, die eine Geschichte in sich tragen.
Eine seiner bekanntesten Serien stammt aus Japan. Darauf sind Männer zu sehen, die wie Gangster wirken. Harte Blicke, kantige Kiefer, dunkle Anzüge. Man könnte schwören, sie gehören zur Yakuza.
Doch Gilden erzählt: Es waren ganz normale Geschäftsleute, nur eben im richtigen Moment, im richtigen Licht, aus der richtigen Nähe fotografiert.
Und genau das ist Storytelling. Ich wusste nichts über diese Männer, und doch hatte ich sofort ein Bild im Kopf – ein Film, der sich ohne Worte abspielte. Das Foto gab mir keine Antworten, nur eine Bühne, auf der meine Fantasie loslegen konnte.
Emotionen einfangen oder kommentierende Fotografie
Manchmal ist ein Blick mehr wert als tausend Worte. In der Streetfotografie können Emotionen ein ganzes Bild tragen.
Ein altes Paar, das sich auf der Parkbank küsst, kann so viel Wärme und Hoffnung ausstrahlen. Fast noch spannender ist der Moment davor – wenn sich ihre Gesichter langsam nähern, aber die Lippen sich noch nicht berührt haben. Diese Spannung lässt den Betrachter den Atem anhalten.
Aber Liebe hat viele Gesichter. Manchmal sitzen Paare nebeneinander, ohne ein Wort zu sagen. Die Körper drehen sich weg, die Augen starren ins Leere. Solche Szenen erzählen von Distanz, von unausgesprochenen Worten. Kein Kommentar nötig – der Ausdruck macht die Geschichte.
Emotionen gehen aber weit über Romantik hinaus. Eine Hand an der Stirn kann Müdigkeit, Stress oder Verzweiflung zeigen. Ein direkter Blick in die Kamera kann intensiver wirken als jede Pose. Früher konnte falscher Blickkontakt lebensgefährlich sein – vielleicht liegt darin, tief in uns, noch immer dieser Nervenkitzel.
Manchmal kann ein Foto auch wie ein stiller Kommentar zur Welt wirken. Personen an der Stranddusche, die Schlange stehen, währenddessen eine andere Dusche fast frei ist, dort aber eine farbige Person steht.
Sagi Kortler, https://1x.com
Oder eine Frau, die in Sportkleidung zwei Energy-Drinks in der einen Hand und eine Zigarette in der anderen trägt.
Diese kleinen Widersprüche lassen Fragen entstehen. Sie sagen nichts laut, aber sie flüstern genug, um Gedanken auszulösen.