Ist Bruce Gilden zurecht der meist gehasste Streetfotograf?
Bruce Gilden spaltet die Streetfotografie. Die einen lieben ihn, die anderen hassen ihn.
Bekannt ist er vor allem durch seine Streetfotos, bei denen er seinen Motiven aus nächster Nähe ins Gesicht blitzt und regelrecht “überfällt”. Das stößt vielen Streetfotografen negativ auf. Selbst Ikonen wie Joeal Meyerowitz sprechen sich gegen den Stil von Bruce Gilden aus und nennen ihn einen “unverschämten Bully, den sie verabscheuen”.
Daher habe ich mir selbst die Frage gestellt: Ist Bruce Gilden zurecht der meist gehasste Streetfotograf?
Ehre, wem Ehre gebührt
Du kannst von seinem Stil halten, was du willst – aber Gilden ist kein Dahergelaufener mit einer Kamera. Der Typ hat’s geschafft. Und zwar so richtig. Dutzende Preise, Ausstellungen, Fotos die in Museen hängen – das ganze Programm.
Seine Fotos werden nicht nur irgendwo ausgestellt, sondern in den ganz großen Häusern. Er ist außerdem Teil der legendären Magnum-Agentur, das allein ist wie ein Ritterschlag in der Fotografie. Da kommst du nicht rein, weil du Glück hast. Da kommst du rein, weil du was kannst. An diesem Punkt kann man ihm also nur sagen: “Ehre, wem Ehre gebührt.” Rein objektiv ist er einer der erfolgreichsten Streetfotografen überhaupt.
In meiner Recherche über Gilden ist mir auch aufgefallen, dass es durchaus Projekte von ihm gibt, da funktioniert sein Stil sogar richtig gut.
Zum Beispiel einen Boxkampf in Großbritannien. Eine ganze Nacht lang hat er dort fotografiert. Hautnah, mitten im Geschehen. Kein Abstand, keine Zurückhaltung – genau das, was so viele an ihm kritisieren. Aber hier? Passt’s perfekt. Die Zuschauer, die Fighter – du siehst die Anspannung, den Schweiß, die Emotionen. Fast so, als wärst du selbst in dieser stinkenden Halle, kurz vor dem Gong. Seine Fotos transportieren die Atmosphäre des Abends wirklich hervoragend.
Und genau das ist es: Gilden ist kein Schönwetter-Fotograf. Der geht dahin, wo es kracht. Wo’s laut ist, schmutzig, gefährlich. Und das merkst du seinen Bildern an.
Er hat auch eine Serie in Japan gemacht, die fast schon das Gegenteil von seinem üblichen Stil zeigt. Weniger aggressiv, mehr Atmosphäre. Gesehen habe ich diese Foto in München in einer Ausstellung. Die virtuelle Tour kann man hier erleben: https://discover.matterport.com/space/FM1JrUVZnyh
Die Fotos dort waren teils ruhiger, manchmal sogar etwas distanzierter. Nicht alle Fotos, aber durchaus 50% davon haben mir in ihrer Gestaltung wirklich gut gefallen. Und nicht alle hätte ich direkt mit “Bruce Gilden blitzt fremden Menschen ins Gesicht” verbunden.
Was man Gilden auch nicht absprechen kann: Mut. Der stellt sich an Orte, da würde ich selbst nicht mal ohne Kamera hingehen. Viertel mit Drogenproblemen, Gewalt, verwirrten Menschen – für ihn kein Grund, umzudrehen.
Im Gegenteil. Der geht da rein, fotografiert, dokumentiert, hält drauf. Das ist nichts für Zartbesaitete. Und auch wenn man diskutieren kann, wie er das macht – erstmal muss man sich trauen, überhaupt da zu sein.
Und klar, man kann sagen: Der nutzt das aus. Geht extra dahin, wo sich Leute nicht wehren können. Dazu kommen wir auch gleich bei den negativen Aspekten. Aber ich will auch anerkennen, dass dieser Typ verdammt nochmal Eier hat. Dass er etwas sieht, was andere nicht mal zu sehen wagen.
Historisch kommt Gilden auch aus einem Leben, das sicher nicht einfach war. Kokainabhängig, schwierige Jugend, New Yorker Straße – der hat nicht nur abgedrückt, der hat gelebt, was er fotografiert. Und manchmal sieht man das eben auch.
Was du also nicht machen solltest: ihn einfach so abhaken. Ihn als den "Hass-Streetfotografen" in die Ecke stellen und fertig. Denn egal, wie man seinen Stil findet – er hat der Fotografie neue Impulse gegeben. Er hat Grenzen verschoben. Diskussionen angestoßen. Und damit mehr bewegt als viele, die immer nur im sicheren Abstand auf den Auslöser drücken.
An vielen Punkten einen Schritt zu weit
Wenn man über Bruce Gilden redet, kommt man um eine Sache nicht herum: Er ist an vielen Punkten einfach einen Schritt zu weit. Und manchmal sogar mehr als nur einen Schritt.
Da hilft auch kein Kunstpreis, keine Galerie, kein großer Name. Denn egal, wie erfolgreich jemand ist – wenn man sich wie ein arrogantes Großmaul benimmt, bleibt das hängen. Und bei Gilden bleibt da einiges hängen.
Joel Meyerowitz, selbst eine Legende in der Streetfotografie, hat es mal so gesagt: Gilden ist wie ein unhöflicher Bully, der Leuten einfach ihr Foto klaut. Und ganz ehrlich: Das trifft es ziemlich gut.
Wenn du dir Interviews mit Bruce Gilden ansiehst oder ihm bei Ausstellungen in München zuhörst, fällt auch ein weiterer Punkt auf: Diese unglaubliche Selbstverliebtheit.
Er redet, als hätte er die Fotografie erfunden. So, als wären alle anderen nur Amateure mit Instagram-Accounts und er der letzte wahre Straßenkrieger mit Kamera.
Außerdem spricht er oft davon, dass er es nur gut meint und seine Motive nicht immer hübsch sind, er diese Personen aber als schöne Menschen wahrnimmt. Bei seiner Ausstellung in München spricht er dann aber über ein Foto, auf dem er eine Frau zeigt, von der er sagt, sie sähe aus, als hätte sie gerade einen Schlaganfall. Und eine andere Frau, die sie „wegwirft“.
Klar, kann man so interpretieren. Aber sorry – wer dann behauptet, er würde nur schöne Menschen fotografieren und hätte immer nur gute Absichten, macht sich halt lächerlich. Das passt einfach nicht zusammen.
Gilden sagt oft, er würde niemanden bloßstellen. Er meint, seine Fotos zeigen einfach nur die Realität. Unverfälscht, hart, ehrlich. Aber du und ich wissen doch, wie Bilder funktionieren. Ein bestimmter Winkel, ein fieser Moment, ein schlechter Gesichtsausdruck – und zack, sieht jemand komplett anders aus. Jeder Fotograf weiß das. Und genau das macht Gilden ja auch. Nur dass er dann so tut, als wäre alles rein zufällig passiert. Ohne Absicht. Ohne Wertung. Ja klar.
Über die Zeit hat sich seine Arbeit aber auch verändert. Heutzutage fotografiert er weniger auf der Straße und mehr gestellte Portraits, bei denen die Leute wissen, dass sie fotografiert werden und das auch wollen. Trotzdem bleibt ein komisches Gefühl.
Denn Gilden sucht sich fast immer Menschen, die vom Leben gezeichnet sind. Gesichter mit tiefen Falten, Tattoos im ganzen Gesicht, kaputte Zähne. Menschen, an denen man sonst in der Stadt vielleicht einfach vorbeiläuft. Und an sich finde ich das nicht mal schlecht. Es kann spannend sein, diesen Leuten ein Gesicht zu geben.
Nur: Wenn Gilden dann über diese Menschen redet und Witze darüber macht, wo bei all den Tattoos eigentlich noch Platz fürs Hirn ist, dann wird’s einfach respektlos.
Er sagt, er wolle den Menschen Aufmerksamkeit schenken. Aber oft wirkt es, als wolle er einfach nur selbst Aufmerksamkeit. Als wären die Menschen auf seinen Fotos nur Mittel zum Zweck. Charaktere für sein Spektakel. Und wehe, jemand kritisiert das.
Dann kommt er mit Sätzen wie: „Heute glaubt jeder, Streetfotograf zu sein – aber kaum einer ist es wirklich.“ Übersetzt: „Nur ich mache es richtig. Alle anderen sind Anfänger.“ Wow. Was für eine bescheidene Haltung.
Kunst darf polarisieren, keine Frage. Aber wer anderen das Recht abspricht, dazuzugehören, macht sich selbst zum Gatekeeper. Und davon gibt’s eh schon zu viele. Leute, die glauben, nur ihre Meinung zählt. Die Kunst erklären wollen, als gäbe es dafür ein Regelbuch. Dabei ist Fotografie – genau wie jede andere Kunstform – vor allem eins: subjektiv.
Bruce Gilden - Am Ende also zurecht gehasst?
Du wirst jetzt keine einfache Antwort von mir hören wie „Ja, Gilden ist der Bösewicht der Fotografie“ oder „Nein, der Mann ist ein verkanntes Genie“. Ganz so simpel ist es nicht. Kunst ist Geschmackssache.
Und bei Gilden scheiden sich die Geister. Manche feiern ihn als mutigen Pionier, andere rollen schon mit den Augen, wenn nur sein Name fällt.
Mich stört aber vor allem, was für ein Bild Gilden von Streetfotografie in der Öffentlichkeit zeichnet. Klar, du und ich wissen, dass Streetfotografie auch feinfühlig, ruhig, nachdenklich sein kann.
Aber viele Leute die sich nicht in der Streetfotografie auskennen oder im Zweifel noch nicht mal selbst fotografieren, sehen dann diese Videos von Gilden, wie er Menschen plötzlich ins Gesicht blitzt – und denken sich: Aha, das ist also Streetfotografie? Kein Wunder, dass da manche direkt ablehnend reagieren.
Gilden steht da wie so ein Aushängeschild – gewollt oder nicht – und macht damit für viele den ersten Eindruck. Und der ist nicht gerade charmant.
In einer Zeit, in der Privatsphäre, Datenschutz und Respekt riesige Themen sind, kommt so eine aggressive Art nicht gut an. Wenn das deine erste Begegnung mit Streetfotografie ist, willst du wahrscheinlich direkt kehrtmachen.
Was ihn trotzdem spannend macht, sind seine Motive. Viele Menschen, die er fotografiert, sind keine Models, keine Stars. Es sind Leute, an denen du sonst vielleicht einfach vorbeigehst. Menschen am Rand der Gesellschaft. Dass er ihnen Sichtbarkeit gibt, finde ich grundsätzlich gut.
Nur: Ob er ihnen wirklich auch eine Stimme gibt, ist eine andere Frage. Es wirkt oft so, als gehe es weniger um die Menschen – und mehr darum, wie er dabei aussieht. Wie viel Aufmerksamkeit er bekommt.
Wenn du dich tiefer mit ihm beschäftigst – Interviews, Dokus, Ausstellungen – wirst du merken: Es gibt auch Seiten an ihm, die man respektieren kann. Einige Projekte sind inhaltlich stark, keine Frage.
Aber für mich bleibt dieser Beigeschmack. Eine Mischung aus Rücksichtslosigkeit, Selbstdarstellung und dieser ewigen „Ich-bin-der-Beste“-Haltung.
Ob du ihn also gut findest oder nicht – das liegt ganz bei dir. Vielleicht siehst du was in seinen Bildern, was ich übersehen habe. Vielleicht spricht dich seine Direktheit an. Ich persönlich finde, er tut dem Ruf der Streetfotografie eher keinen Gefallen. Aber das heißt nicht, dass man nichts von ihm lernen kann. Nur eben nicht alles.